Kapitel 2 von „Das Labor“ (The Shield 1)

Kapitel 2 von „Das Labor“ (The Shield 1)

 

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Als Jack ins Versteck zurückkehrte, war sein Bruder verschwunden.
„Hector!“ Seine Stimme klang heiser. „Hector!“
Jack merkte, wie sich sein Puls beschleunigte. Er ließ den Beutel mit den gestohlenen Vitaminwürfeln fallen und sah sich um.
Die Matratzen lagen an die nackten Betonwände gedrängt; silbern glänzende Isolierfolien über sie gebreitet. In einer Ecke türmten sich Klamotten, ein müffelnder Haufen aus derben Hosen, verfilzten Pullovern, ungewaschenen Unterhosen. An die kahlen Wände waren vergilbte Poster gepinnt, stoppelhaarige Popsternchen grinsten Jack mit blitzenden Metallzähnen und aufdringlich blauen Augen an. Daneben hing ein papierdünner Bildschirm, auf dem sich bullige Panzerfahrzeuge ein Schlammrennen lieferten.
Alles war wie immer.
Nur Hector fehlte.
Jack entfernte die durchsichtige Kunststoffscheibe, die die Fensteröffnung abdeckte, und lehnte sich hinaus. Unter ihm erstreckte sich Las Vegas, wie immer in ockerfarbenen Dunst gehüllt, dahinter die Wüste, die sich in bräunlichen Staubwolken verlor. Es war still, nur vereinzelt drang Motorengeräusch in den sechzehnten Stock herauf. Schräg gegenüber lag das Arabic Senses Hotel, ein toter Monsterbau mit zersplitterten Fenstern und einer riesigen Digitaluhr auf dem flachen Dach. Sie zeigte 18:55 Uhr und daneben das Datum: 25. März 2061. Die Sekundenanzeige war ausgefallen.
Wo zur Hölle steckt der Kerl?
Sein kleiner Bruder wusste doch, dass immer jemand im Versteck bleiben musste. Es bewachen. Vor allem die Medikamente: die Schmerzstiller, die Stimmungsaufheller, die Antibiotika. Das alles musste verteidigt werden. Gegen die Ratten, die alles erschnüffelten und in sich hineinfraßen, was sie finden konnten. Gegen den Abschaum, der sich in den Straßen von Vegas herumtrieb und die Nase neugierig in jedes Loch steckte. Gegen Menschen wie Jack und Hector.
Und so flatterhaft Hector auch sonst war: Jack hatte sich immer auf ihn verlassen können, wenn es um ihr Versteck ging. Es war schließlich ihr Zuhause, ihr verdammtes verdrecktes Zuhause, ihre einzige Zuflucht in dieser sterbenden Stadt.
Jack schluckte und schob den Gedanken, dass Hector ihn im Stich gelassen haben könnte, mit aller Kraft beiseite. Er warf einen letzten Blick auf die Abendsonne, die sich mühsam durch den Giftnebel kämpfte, und drehte sich um.
Erst jetzt bemerkte er den Abdruck an der Wand: die Umrisse eines schweren Arbeitsschuhs, in der Mitte ein siebenzackiger Stern.

* * *

Sie sind hier gewesen.
Jack wunderte sich, dass ihn diese Erkenntnis kalt ließ. Sein Atem ging ruhig, sein Denken war klar.
Er fuhr die Linien des Abdrucks mit dem Zeigefinger nach und roch an ihm. Ein stechender Geruch stieg ihm in die Nase – Desinfektionsmittel.
Übelkeit kroch in Jack hoch und er wischte den Finger hastig an seiner abgewetzten Hose ab.
Er atmete tief durch und starrte auf das Heptagramm an der Wand. Es kam ihm vor, als würde der Stern zurückstarren, höhnisch und überlegen. Er markierte eine Wendung in seinem Leben und Jack bezweifelte, dass es eine Wendung zum Guten war.
Ein Teil von ihm hatte sich während der vergangenen Monate auf diesen Moment vorbereitet, hatte geahnt, dass die Detektoren sie früher oder später aufspüren würden.
„De-tek-to-ren.“ Jack sprach das Wort langsam aus und betonte jede Silbe, als würde das Geschehen erst dadurch real.
Er und Hector passten exakt in ihr Beuteschema: junge Männer, relativ gesund, relativ kräftig, ohne festen Wohnsitz und mit größter Wahrscheinlichkeit nicht im National Data Grid erfasst. Jack war zwanzig, Hector zwei Jahre jünger und dank der Vitaminwürfel und Mineralstoffpräparate, die Jack regelmäßig aus den Drugstores klaute, waren sie in guter Verfassung.
Die Detektoren durchkämmten die Stadt permanent nach neuen Opfern. Dabei konnte niemand mit Gewissheit sagen, ob es sie wirklich gab oder ob sie nur in den düsteren Legenden existierten, die sich wie ein Virus in der Stadt verbreiteten. Sie waren eine stete Bedrohung, die manche ernst nahmen, andere belächelten, ein Schatten, der zu Vegas gehörte wie die Chemiefabriken, die sich wie ein toxischer Ring um die Stadt zogen, die abgetakelten Veranstaltungshallen, die als Müllkippen benutzt wurden oder das Wasser, das jedes Jahr schlammiger schmeckte.
Unter den Obdachlosen ging Angst um, schon seit Jahren, und Jack hatte unzählige Berichte über junge Kerle gehört, die aus ihren Kellerlöchern gezerrt wurden, aus Abwasserkanälen und Verschlägen und nie wieder gesichtet wurden. Manche Leute – vor allem jene, die den Tag nur betäubt und berauscht überstanden – behaupteten hartnäckig, dass sie mysteriöse Gestalten gesehen hätten, die so schnell verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Doch niemand wusste, wer sie waren, woher sie kamen und wohin sie ihre Opfer brachten. Man wusste nicht einmal, ob sie sich tatsächlich „Detektoren“ nannten.
So gerne Jack diese Geschichten als Schauermärchen abtun wollte: Die Detektoren hinterließen meist ein überaus greifbares Erkennungszeichen – den Schuhabdruck mit dem Stern.
Und jetzt haben sie sich Hector geschnappt.
Jack fragte sich, wie sie ihr Versteck entdeckt hatten. Seit fast sechs Monaten hausten sie in der vorletzten Etage eines gigantischen Hotelbaus, der im Norden der Stadt errichtet worden war und einen flachen Bogen beschrieb. Es war ein klobiges Gerippe aus Stahl und Beton, zugig und ein unfreiwilliges Fangnetz für den Wüstenstaub, der sich in jeder Ritze versteckte. Orange Absperrbänder flatterten im Wind; das Innere des Baus war ausgehöhlt, es gab kein Wasser, keine Toiletten, nicht einmal Fensterscheiben, und die Treppen waren ungesicherte Aufstiege, bei denen ein falscher Tritt den Tod bedeutete.
Hector hatte lautstark protestiert, als Jack ihm das neue Versteck präsentierte. Hatte gemeint, es sei zu gefährlich, zu weit droben. Doch in Wahrheit war Hector zu faul, um jeden Tag die sechzehn Stockwerke auf und ab zu laufen. Es gab zwar zwei Lastenaufzüge, doch einer davon war defekt und der andere schien ein Eigenleben entwickelt zu haben: Er setzte sich nur zu bestimmten Tageszeiten in Bewegung und machte dabei einen Höllenlärm.
Vielleicht hatte Hector recht gehabt. Vielleicht war dieses Versteck zu unsicher. Vielleicht hätten sie sich in einem ungenutzten Kabelschacht verkriechen sollen oder in den aufgelassenen Trinkwasserspeichern, so wie andere Penner auch.
Jack fuhr sich über die Stirn, auf der sich Schweißtröpfchen gebildet hatten. Sein Herz, das sich bis jetzt bemerkenswert ruhig verhalten hatte, pumpte das Blut schneller durch seinen Körper. Ungefragt versetzte es ihn in Alarmzustand und schuld daran war eine einfache Erkenntnis, die sein Gehirn mit sekundenlanger Verzögerung nachlieferte: Den Detektoren musste klar sein, dass Hector hier nicht alleine hauste.
Sie würden zurückkehren.
Bald.

* * *

Jack legte sich auf die Matratze und lauschte seinem Herzschlag, der sich beschleunigte wie ein Magnetzug auf freier Strecke.
Sie kommen wieder. Finden mich. Holen mich.
Er starrte auf den rotbraunen Fleck, der sich an der Decke gebildet hatte und unaufhaltsam wuchs. Täglich, so kam es ihm vor, nahm er an Umfang zu und würde irgendwann auch Wände und Boden bedecken. Es war ein verstörender Fleck, er schien zu leben, und er machte Jack Angst. Doch er war zu feig, um ins nächste Stockwerk hinaufzugehen und nachzusehen, was die Verfärbung verursachte.
Er drehte sich auf den Bauch und starrte auf den Schuhabdruck. Jetzt, im goldenen Licht der Abendsonne, wirkte er harmlos, als hätte sich irgendein Bauarbeiter einen Spaß erlaubt und sich verewigt, wohl wissend, dass seine Spuren eines Tages hinter Edelholzvertäfelungen verschwinden würden.
Sie müssen wiederkommen. Mich finden. Mich holen.
Jack wusste, dass er sich von den Detektoren aufgreifen lassen musste. Nur dann hatte er eine Chance, Hector wiederzusehen und ihm beizustehen, egal, in welchen Schwierigkeiten er stecken mochte. Dabei spielte es keine Rolle, dass sein Instinkt ihm befahl, abzuhauen, sofort seine Sachen zu packen und unterzutauchen. Sein Körper war mittlerweile auf Flucht eingestellt; Adrenalin sorgte dafür, dass er rascher atmete, die Handflächen feucht wurden, der Mund trocken.
Doch Jack blieb liegen, sein Kinn auf die Hände gestützt.
Vielleicht ist alles ganz anders. Vielleicht verarscht mich Hector und stürmt mitten in der Nacht ins Zimmer und findet alles furchtbar komisch.
Jack bemühte sich, ruhig und tief zu atmen. Ein, aus, ein, aus. Und je dunkler es im Zimmer wurde, umso schläfriger wurde er.
Irgendwann schreckte er hoch.
Sein Herz raste und er lauschte angestrengt in das trübe Dunkel. Von fern hörte er ein Rattern, ein Knirschen, ein metallisches Rütteln, das durch die Gänge hallte, tausendfach verstärkt, so wie alle nächtlichen Geräusche.
Stille.
Dann ein Quietschen, das sich in einen unerträglich hohen Ton steigerte, bis es plötzlich stoppte.
Jack griff sich an die Brust, als könnte er so sein Herz beruhigen. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden, heiß und feucht. Er stand auf, schlich ins Bad, drückte sich in eine Ecke und holte den Elektroschocker aus seiner Jackentasche, ein uraltes Ding, von dem er nicht einmal mit Bestimmtheit sagen konnte, ob es noch funktionierte.
Er lauschte wieder und sondierte die Laute, mit denen er sich in all den Stunden vertraut gemacht hatte, die er nachts wach lag: das Pfeifen des Windes, der durch die Gänge strich, das Flattern der Absperrbänder, das Brummen der Minijets, mit denen die Spieler in die Stadt geflogen wurden. Er war darauf gefasst, inmitten dieser Klangkulisse Schritte zu hören, die sich näherten, Stimmengemurmel.
Doch die Nacht spuckte nichts aus. Keinen Hector, keine Detektoren.
Verdammter Lastenaufzug.
Jack fühlte sich erleichtert und enttäuscht zugleich. Er hatte gehofft, dass Hector hereintorkeln würde, lachend, lallend, sich keiner Schuld bewusst. Dass er mit irgendwelchen Jungs in irgendwelchen Bars abgehangen hatte. Dass er in jugendlichem Leichtsinn sein Versprechen gebrochen hatte, in der Nacht immer im Versteck zu sein.
Jack wäre ihm nicht böse gewesen. Er hätte ihm eine verpasst, klar, aber er wäre ihm nicht böse gewesen.
Er tastete sich zurück zur Matratze, nahm eine Hydrokapsel und legte sich wieder hin. Gegen seinen Willen dämmerte er hinüber in einen lähmenden Zustand, halb schlafend, halb wachend, die Fantasie weit geöffnet für Erinnerungsfetzen.
Und er begann zu träumen.
Von den sonnigen Tagen in Boise, als er und Hector aus der Schule kamen, sich plaudernd und lachend an den Küchentisch setzten und die Berge von Würstchen verdrückten, die ihnen ihre Mom vorsetzte. Bunte Bilder formten sich, von ausgelassenen Ballspielen auf dem ewig dürren Rasen, der sich um ihr Haus zog. Sie schrien und johlten, bis der Nachbarshund über den Zaun gesprungen kam, ein zotteliges Mistvieh mit Eiterpfropfen in den Augenwinkeln und einem erbärmlich nackten Schwanz, den er hängen ließ, während er auf die beiden Brüder zulief und laut bellte.
Hector nahm einen Stein und schleuderte ihn auf das Tier. Der Hund jaulte auf, zog die Rute ein und war im Begriff, sich zu trollen, als er sich plötzlich umdrehte und sich auf Hector stürzte. Der Junge stand da wie gelähmt, die Augen weit aufgerissen, als könne er nicht glauben, was gerade geschah. Der Köter warf ihn um und verbiss sich in seinen Unterarm.
Erst jetzt kam Leben in Hector. Er begann zu schreien, um sich zu treten, schrie lauter, bis sich Jack zwischen die beiden warf und Hector mit seinem bloßen Körper zu schützen versuchte. Der Hund knurrte, wich Jacks Schlägen aus und zerrte an seinem Hemd. Er stand auf dem Jungen, drückte ihn mit seinem Gewicht zu Boden, Speichel tropfte auf das verschwitzte Gesicht des Zehnjährigen.
Speichel tropfte. So wie jetzt.
Jack fuhr hoch.
Etwas Warmes rann über seine Wange, etwas atmete ihn an. Der Geruch von angefaultem Fleisch stieg ihm in die Nase und er spürte ein Gewicht auf seiner Brust, eine Beklemmung, die ihn ziellos zuschlagen ließ. Ein Jaulen, ein Schimmern von gebleckten Zähnen, spitzen Reißzähnen, umrahmt von nass glänzenden Lefzen.
Jacks Augen brauchten lange, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, viel zu lange. Noch ehe er sich ganz aufrichten konnte, wurde er erneut auf die Matratze gestoßen. Wieder dieser faulige Gestank. Feuchte Pfoten trampelten auf ihm herum, rammten sich in seinen Bauch, das Tier zerrte an seiner Hose, versuchte, die Zähne in Jacks Oberschenkel zu schlagen, glitt ab, schnappte wieder zu, erwischte nur den Stoff, zog daran und knurrte wütend.
Jack griff ins Dunkle und bekam ein Ohr zu fassen, dann einen haarigen Hals, und drückte zu. Der Hund wollte seinen Kopf zurückziehen, wehrte sich, doch Jack war stärker. Er hielt die Arme gestreckt, presste seine Daumen in die Kehle des Köters und spürte, wie dessen Kräfte nachließen. Irgendwann entwich ihm ein leises Röcheln und seine Läufe knickten ein. Er sackte auf Jack zusammen.
Jack keuchte.
Er spürte einen dumpfen Druck im Hinterkopf; vor seinen Augen blitzte es. Seine Zunge fühlte sich pelzig an und seine Hände zitterten. Er wälzte den toten Hund auf den Boden, stand auf, riss die Plastikscheibe aus ihrer Verankerung und lehnte sie an die Wand. Dann packte er den Kadaver und warf ihn aus dem Fenster.

 

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Foto: MorrowLess | CC BY-SA 2.0 | Flickr

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